Goethe wird Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften

 

Dass das Goethe-Wörterbuchs (wie auch die historisch-kritische Akademie-Ausgabe der Werke in Einzelbänden) an der Akademie in Berlin als Vorhaben begründet wurde, hat seine Vorgeschichte auch in der Verbindung des Dichters und Naturforschers mit der Wissenschaftsakademie.   

 

In seiner Denkschrift über die Zuwahl von auswärtigen Mitgliedern vom 25. Juli 1806 hatte Alexander von Humboldt den Vorschlag gemacht, neben international bekannten Naturforschern und Entdeckern auch sieben sehr berühmte Deutsche aufzunehmen:  "Eine deutsche Akademie sollte hauptsächlich sich durch Beigesellung derer ehren, welche dem deutschen Namen einen unvergänglichen Ruhm verschaffen ... Die Namen Harding, Olbers, Werner, Sömmering, Pallas, Gauß, Voß, Goethe und Schreber sind jedem werth, der sein Vaterland ehrt ..."

Der klassische Archäologe Aloys Hirt   aber hatte bereits einige Tage vor Humboldts Vorstoß  in seinem Wahlvorschlag vom 15. Juli 1806 angeregt, fünf berühmte Gelehrte als auswärtige Mitglieder in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufzunehmen. Hirt war als Königlich Preußischer Rat, Mitglied der Akademien der Wissenschaften und der Künste in Berlin ein einflußreicher Koordinator der neuen Kultur- und Wissenschaftspolitik in Preußen.  Nach Jahren der Vernachlässigung gewann die Kunst- und Wissenschaftsförderung unter König Friedrich Wilhelm II. einen nachhaltigen Aufschwung.  Aloys Hirt genoß nicht nur die Protektion des Königshauses. Durch seine guten Kontakte und Beziehungen zum Hof, zu Künstlern und Gelehrten beförderte er wesentlich die Öffnung der beiden Akademien für international anerkannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst. Seine Vorschlagsliste begann er mit 1. Herrn Wolfgang von Goethe, sächsisch-weymarischen geheimen Rath. Dem Vorschlag Hirts haben sich dann der Schweizer Publizist Johannes von Müller, der schwedisch-pommersche Theologe und Aufklärer Johann Joachim Spalding und der Pädagoge und Altphilologe Philipp Karl Buttmann mit eigenen unterstützenden Eklärungen angeschlossen.

 

Am 22. Juli 1806 hatte Hirt noch einmal seinen Vorschlag zur Aufnahme Goethes begründet (BBAW-Archiv: I-III-6, Bl. 85r-86r). Die Zuwahl Goethes war dann am 31. Juli 1806 erfolgt ( siehe: I-III-6, Bl. 93). Der preußische König Friedrich Wilhelm III. bestätigte am 5. August 1806 die Wahl Goethes zum Auswärtigen Mitglied der Akademie. Und zusammen mit einem Begleitschreiben übersandte Aloys Hirt das vom Direktorium der Akademie ausgestellte Mitgliedsdiplom am 4. Oktober nach Weimar.

 

Aber erst am 3. November bedankte sich Goethe dann in einem Schreiben bei Aloys Hirt. Denn nach der Schlacht bei Jena und Auernstedt am 14. Oktober 1806, in der die preußische Armee von den französischen Truppen Napoleons vernichtend geschlagen worden ist, war es auch im nahen  Weimar zu Vewüstungen und existenzbedrohenden Übergriffen auf die Zivilbevölkerung gekommen. Auch Goethes selbst war dabei von plündernden Marodeuren unmittelbar attackiert woden. Noch unter dem Eindruck der dramatischen Geschehnisse schrieb Goethe mit einer gewissen Vorsicht in die preußische Hauptstadt: "Nehmen Sie meinen lebhaften Dank, daß Sie meiner in den akademischen Versammlungen gedenken wollen und sagen Sie mir mit einem Worte, ob es nöthig und schicklich ist, daß ich unmittelbar danke, und an wen ich mein Schreiben zu richten hätte, oder ob Sie sich zum Dollmetscher meiner Empfindungen, besonders in den gegenwärtigen verworrenen Zeiten, wohl machen möchten."  




 

 

Zur Geschichte des Goethe-Wörterbuch

»Goethes reiche, unendliche Sprachgewalt kann nur ein Wörterbuch veranschaulichen, ein Wörterbuch, das seinen Wortschatz systematisch nach grammatischen und ästhetischen Gesichtspunkten verzeichnet. Ein solches Lexikon von einem feinen, philologisch geschulten und künstlerisch empfindenden Kopfe bearbeitet, scheint mir ein dringendes Bedürfnis der Goetheforschung, die an ihm einen festen Halt und Mittelpunkt fände.« – Als Otto Pniower seinen programmatischen Aufsatz »Zu Goethes Wortgebrauch« im »Goethe-Jahrbuch« von 1898 mit dieser apodiktischen Bemerkung eröffnete, lag schon eine umfangreiche und vielgestaltige interpretatorische und biographische Literatur zu Goethe vor. Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Wilhelm Scherer in Abgrenzung von der älteren Goethe-Philologie versucht, der Forschung eine methodisch gesicherte Grundlage zu geben und entwickelte, ähnlich wie Wilhelm Dilthey, konzeptionelle Ideen einer produktions-psychologischen Analyse von Dichtung. Es war auch ein Anstoß Scherers, der dessen Schüler Konrad Burdach Anfang der 80er Jahre zu einer Studie veranlaßte, die für ein späteres Wörterbuchprojekt richtungweisend war: zu der Abhandlung »Die Sprache des jungen Goethe«, in der dieser für Goethes Frühschaffen charakteristische poesiesprachliche und mundartliche Spezifika beschrieb. Ein erstes, den Wortschatz der »Faust«-Dichtung erläuterndes Handlexikon von Friedrich Strehlke erschien bereits 1891.

Die Forderung Pniowers, der ebenfalls ein Schüler Scherers war, nach einem Wörterbuch zu Goethes Gesamtwerk, entsprach dem Bestreben nach einer Fundierung der Goethe-Forschung. Er erhob sie zu einem Zeitpunkt, als mit der historisch-kritischen Weimarer Ausgabe gerade eine adäquate Textbasis für ein solches Unternehmen entstand. Pniower widmete sich lebenslang literarischen und historischen Interessen. Er war über dreißig Jahre Direktor des Märkischen Museums zu Berlin, betreute den Fontane-Nachlaß, arbeitete zu Kleist, E.T.A. Hoffmann, Keller, besonders aber zu Goethe.

                                          Konrad Burdach (1859–1936)                        Julius Petersen (1878–1941)

Der von ihm gestellten Aufgabe einer Erfassung und Beschreibung des Goethe-Wortschatzes begann er bald selbst nachzugehen. Im Laufe vieler Jahre schuf er in »Nebentätigkeit« ein schätzungsweise 38.000 Belege umfassendes Karteikartenarchiv, in dem markante Wörter, häufig in ihren Kontexten, ausgewiesen wurden. Pniower ging es insbesondere darum, sprachlich Signifikantes festzuhalten, wovon noch eine späte Abhandlung von 1930 zu eigenständigen Wortbildungen Goethes zeugt. Der Erfolg einer größeren zusammenfassenden Publikation war ihm allerdings, als er im März 1932 verstarb, versagt geblieben. Konrad Burdach hatte spätestens seit 1923 mit Pniower im gedanklichen Austausch über das Konzept des geplanten Wörterbuchs gestanden. Als ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften brachte er wenige Wochen nach dessen Tod, am 28. April 1932, den Vorschlag auf der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse ein, Pniowers Wörterbuchprojekt zu einem Unternehmen der Akademie zu machen. Er erhielt bald die Unterstützung seines Akademiekollegen Julius Petersen. Die Initiative der beiden Germanisten, die durch das Goethejahr begünstigt wurde, blieb dann aber doch auf halbem Wege stecken. Das von Pniower angelegte Archiv erwies sich nach Stichproben trotz der großen persönlichen Leistung als bei weitem nicht vollständig genug.
Das Unternehmen existierte an der Berliner Akademie fortan mit einem speziellen Status, als ein Projekt »im Stadium der Vorbereitung«. Es stand unter Leitung Julius Petersens, des damaligen Präsidenten der Goethe-Gesellschaft. Es ist zweifellos als Petersens Verdienst anzusehen, daß er das Vorhaben mitinitiierte und daran auch lebenslang festhielt. Er vermochte es jedoch nur in geringem Maße zu fördern. Wie aus den Akten der Akademie hervorgeht, scheint das Projekt bis 1935 eine einzige Mitarbeiterin gehabt zu haben: Charlotte Pniower, die die Arbeit am Archiv ihres Mannes weiterführte. 1937 gab sie es dann für eine finanzielle Gegenleistung (1.500 RM) an die Preußische Akademie ab.
Nach Petersens Tod 1941 kam das Vorhaben gänzlich zum Stillstand. Im entsprechenden Akademie-Jahrbuch findet sich zum »Wörterbuch der Sprache Goethes« der lakonische Hinweis: »Die Arbeit ruht zur Zeit«. Bemerkenswert ist allerdings, daß die akademische Klasse einige Jahre später, am 6. Januar 1944, auf eine Anfrage hin entschied, das Wörterbuch buch weiterzuführen. An dieser (bereits im Luftschutzraum abgehaltenen) Sitzung nahm auch Wolfgang Schadewaldt teil, der 1942 zum ordentlichen Akademiemitglied im Fach griechische und lateinische Literatur berufen worden war.

Das von Schadewaldt begründete Unternehmen Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gehörte Schadewaldt zu einer kleinen Gruppe von Akademiemitgliedern, die sich stark für ein erneuertes akademisches Leben in Berlin engagierten. Schadewaldt, der zur griechischen Tragödie, zu Sappho, Pindar und anderen antiken Autoren, in besonderem Maße zu Homer gearbeitet hatte, beschäftigte sich auch mit der Literatur und Ästhetik des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, bevorzugt mit Goethe. Im September 1946 war er von der  philosophisch-historischen Klasse beauftragt worden, einen Plan für die Beurteilung des Goethe-Wortschatzes vorzulegen. Am 12. Dezember desselben Jahres trug er dem  Plenumskollegium der nunmehrigen Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seine Denkschrift »Das Goethe-Wörterbuch« vor, die für das Unternehmen einen Neuanfang bedeutete. – In der Nachkriegs-zeit, die angesichts der nationalen Katastrophe durch eine starke Besinnung auf das klassische humanistische Erbe gekennzeichnet war, ist dies die früheste geisteswissenschaftliche Gründung der Berliner Akademie gewesen.
In seiner Denkschrift hob Schadewaldt hervor, daß das Unternehmen »auf eine völlig neue Grundlage « gestellt werden müsse. Diese Aussage betraf vor allem den Umfang der  Exzerptionen.

Hinsichtlich früherer Unzulänglichkeiten hatte der Altphilologe Schade-waldt von Beginn an eine vollständige Erfassung der Wörter gemäß dem Thesaurus-Prinzip im Auge. Ausdrücklich wies er auf den »Thesaurus Linguae Latinae« als ein geeignetes Modell hin. Die dort gewählte »lexikalisch-lakonische« Kommentierung erschien ihm auch für das Goethe-Wörterbuch (GWb) beispielhaft. Die lange altphilologische Tradition der Autorenlexika und -thesauri gab ihm adäquate Anregungen. Schadewaldt postulierte eine Deutung »Goethes aus Goethe«. Es ging ihm um eine reiche Materialpräsentation zu den einzelnen Lemmata und eine behutsame, von individuellen Erwägungen weitgehend freie Interpretation. Im Zentrum der Deutung standen für ihn die (von ihm so bezeichneten) »Grund und Wesenswörter«, die ideellen Bausteine der Goetheschen Welt wie Gott, Natur, Geist, Herz, Leben, Liebe, Schönheit, Tat, Entsagung. Er sprach sich für deren vollständige Exzerption aus, während die anderen Wörter nur mit einem repräsentativen Teil des Belegmaterials zu erfassen seien.
Außer der grundlegenden Bedeutung des Wörterbuchsprojekts für das Goethe-Verständnis hatte Schadewaldt in besonderem Maße dessen sprach- und kulturbildende Funktion im Blick.

 

Wie er ausführte, besitze Goethes Sprache gemäß ihrem hohen  Entwicklungsniveau normativen Gehalt. Entsprechend biete die Kodifizierung des Goetheschen Wortschatzes »eine Magna Charta für das neuere Deutsch«. –
Als erster fester Angestellter des Unternehmens wurde zum Januar 1947 Hans Georg Heun verpflichtet, der 1948 auch Leiter der inzwischen auf fünf Mitarbeiter angewachsenen  Berliner Arbeitsgruppe wurde. Schadewaldt wollte das Zettelarchiv jedoch nicht allein in Berlin, sondern auch an anderen germanistischen Zentren in Deutschland erstellen lassen.
Schon im November 1947 entstand eine zunächst vom Hamburger Senat, später dann von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Arbeitsstelle in Hamburg (Leiter: Hans Pyritz), im Februar 1948 eine Zweigstelle der Berliner Einrichtung in Leipzig, derer sich besonders Theodor Frings annahm (Leiterin: Erna Merker). Im Sommer 1947 war Schadewaldt in dieser Angelegenheit auch nach Göttingen, Frankfurt/M., Heidelberg, Tübingen und München gereist. (Entsprechende Verhandlungen mit der Bayerischen Akademie fanden noch Anfang der 60er Jahre statt.)
Die Berliner Redaktion sollte die Zentralstelle eines solchen sich über alle Besatzungszonen erstreckenden Netzes von Arbeitsgruppen sein. Schadewaldts Vorstellungen zur Goethe- Forschung an der Berliner Akademie gingen jedoch noch darüber hinaus: Er begann sich für die Schaffung eines »Goethe-Instituts« einzusetzen, an dem auch ein umfassendes wissenschaftliches Kommentarwerk zu Goethe entstehen sollte. Das Wörterbuch, das er selbst als einen »latenten Goethe-Kommentar« auffaßte, und das beabsichtigte Unternehmen sollten einander ergänzen und fördern. Diese integrative Idee ließ sich jedoch nicht realisieren.
Als Schadewaldt 1950 einem Ruf an die Universität Tübingen folgte, war die Exzerptionstätigkeit für das GWb längst angelaufen. Auf der Tagung der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst am 11. Mai 1950, wo er letztmalig teilnahm, hatte er sich noch um eine Regelung seiner Nachfolge in der Leitung derdas Wörterbuch betreuenden Goethe-Kommission bemüht (Vorsitz: Wilhelm Wissmann, Stellvertreter: Werner Simon). Etwa ein Jahr nach Beginn seiner Lehrtätigkeit in Tübingen begründete er dort eine weitere Arbeitsstelle des GWb (November 1951). Ihren »Sitz« hatte sie zunächst für einige Zeit in Schadewaldts eigener Wohnung, bevor sie in normale Büroräume wechselte.

Bei der Exzerption des Goetheschen Gesamtkorpus übernahm die Berlin-Leipziger Arbeitsstelle die Dichtungen, die ästhetischen und kunst-kritischen Arbeiten, die autobiographischen Texte und Tagebücher. In Hamburg wurden die Briefe und amtlichen Schriften, in Tübingen die naturwissenschaftlichen Studien sowie die Gespräche exzerpiert. Zu den jeweiligen Belegen erstellten die Mitarbeiter, unterstützt von Hilfskräften (Studenten, pensionierte Gymnasiallehrer), Karteikarten, die jeweils außer dem Lemma den unmittelbaren Kontext, die Stellenangabe und gegebenenfalls das fremdsprachige Quellwort erfaßten. Vor allem im Bereich der amtlichen Schriften kam es Anfang der 60er Jahre mittels  elektronischer Rechenanlagen auch schon zu automatischer Text-zerlegung. Ging man bei den weitgehend nach Schadewaldts Plan vorgenommenen Exzerptionen zu Beginn der 50er Jahre von 1,5 bis 2 Millionen Belegen aus, so wurden es schließlich ca. 3,2 Millionen. Der erste große Arbeitsgang, die Schaffung des alphabetisch geordneten Belegarchivs, konnte (gegenüber früheren, optimistischeren Prognosen) erst 1962/63 abgeschlossen werden. Während der Exzerptionsphase entstanden auch Studien, Dissertationen und Modellartikel zu zentralen Begriffen wie Gegenwart, Augenblick, Tat, Genuß, Anmut, Welt. Weitere Pilotprojekte waren Werkwörterbücher zum »Götz« (Aal–Glück; Jutta Neuendorff; 1962) und zum  »Werther« (Erna Merker u. a.; 1966). Parallel zur Tätigkeit am GWb verfaßte Christa Dill ihr »Wörterbuch zu Goethes West-östlichem Divan« (1987). Die von dem Tübinger Mitarbeiter Wolfgang Herwig bearbeitete fünfbändige neue Ausgabe von »Goethes Gesprächen« (1965–87) wurde zu einer gegenüber der älteren Biedermannschen Edition von 1909–11 erweiterten und verbesserten Zitiergrundlage. Die Tübinger Arbeitsstelle gelangte 1960 in die Obhut der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Im darauffolgenden Jahr wurde die Hamburger Redaktion von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen übernommen. Hatte man bis dahin ohne rechtliche Fixierungen, in freier sachlicher Koordinierung am gemeinsamen Projekt gearbeitet, so ging es in der Folge um vertragliche Regelungen. Zu einer entsprechenden Vereinbarung kam es im Juni 1963.
Kern des Vertragswerkes des deutsch-deutschen Unternehmens war es, »die bestehenden institutionellen Formen des Goethe-Wörterbuches« als »gleichberechtigte Einrichtungen« anzuerkennen. Entsprechend fungierten die drei verantwortlichen Akademien gemeinsam als Herausgeber. – Im November 1965 wurde dann eine Ergänzungsvereinbarung getroffen, die eine Reihe relevanter praktischer Fragen, besonders die Grundsätze der Herausgabe des Werkes, regelte. 1966 gelang es nach längerer Suche, mit dem Verlag W. Kohlhammer einen geeigneten Partner für die nicht einfach zu realisierende drucktechnische Umsetzung zu gewinnen.

Noch im selben Jahr erschien auch die erste Lieferung  des GWb. Damit trat unter den Bedingungen  der deutschen Teilung eine der seltenen gesamtdeutschen  Akademieunternehmungen auf geisteswissenschaftlichem  Gebiet erstmals an die Öffentlichkeit.  Den grenzüberschreitenden Geist des Projekts brachten  die drei Präsidenten der Trägerakademien Hartke,  Gentner und Neumann in ihrem Geleitwort zum Ausdruck.  Sie charakterisierten »die Sprachwelt Goethes  bei seiner umfassenden Welt-Ansicht und seiner nicht  weniger umfassenden natürlichen Menschlichkeit«  als »einen Raum …, in dem sich alle Länder deutscher  Zunge einander zugehörig fühlen können.« –  Seit 1966 war der Frings-Schüler Josef Mattausch  Leiter der Berlin-Leipziger Arbeitsstelle. Er koordinierte  deren etwa fünfzigprozentigen Anteil an der  Artikelproduktion der drei Redaktionen von den  Anfängen bis einschließlich 1999. Unter Mattauschs  Ägide entwickelte sich auch ein reger schriftlicher  Kritikaustausch mit den Arbeitsstellen in Tübingen  und Hamburg. Diese effektive Form des Miteinanders  am gemeinsamen Unternehmen blieb während  der gesamten Phase der deutschen Teilung bestehen.  An den ersten Lieferungen des GWb wurde bald  ein gewisses Desiderat deutlich. Bei teilweise unverhältnismäßig  breiter Materialdarbietung hatte die  von Schadewaldt geforderte Zurückhaltung bei den  Interpretamenten öfter zu unzureichenden Erklärungsleistungen  geführt. Daher ging es in der Folge  um straffere Belegzitation und um eine größere  Profilierung der semantischen Aussagen. Es sollten  verstärkt objektivierende Verfahren der Bedeutungserschließung  angewandt werden. Die Entwicklung  der sprach-wissenschaftlichen Forschung – mit semantischer  Merkmalbestimmung und Ermittlung  von kontextuellen Bedeutungs-determinanten – kam  diesem Bemühen zu Hilfe. In dieser Bearbeitungsphase  gelangte das Prinzip Bedeutungswörterbuch zu  stärkerer Ausprägung.  Die sogenannte kommunikativ-pragmatische  Wende in der Sprachwissenschaft seit Anfang der  70er Jahre führte bald danach, z.T. auch zeitlich überlagernd,  zu einer weiteren Entwicklungsstufe. Das lexikalische Sprachzeichen wurde nunmehr, über seine  Eigenschaft als Träger mehr oder weniger abstrakter  Bedeutung(en) hinaus, in seinem jeweiligen kommunikativen  Gebrauchswert, als Bestandteil einer  »natürlichen« Kommunikationshandlung gefaßt. Damit  traten in der Wortverwendung reflektierte Einstellungen,  Bewertungen, individuelle oder soziale  Perspektiven sowie Intentionen (und erreichte Wirkungen)  deutlicher ins Blickfeld. Die Berücksichtigung  der pragmatischen Komponente verhalf insbesondere  dazu, sprach- und literaturwissenschaftliche  Verfahrensweisen besser zu koordinieren.  Bei dem Bemühen um ein komplexeres Herangehen  wurden auch zunehmend begriffsgeschichtliche  Fragestellungen einbezogen. Das kam besonders  bei der Bearbeitung des Goetheschen Kernwortschatzes  zur Geltung. Den entsprechenden Artikeln sind  öfter längere Vorbemerkungen vorangestellt, die Bezüge  zu historischen Interpretationsweisen der Begriffe  herstellen. Auch die Wandlungen in Goethes  eigenem Verständnis der Wörter in den verschiedenen  Lebens- und Schaffensphasen fanden verstärkt  Beachtung. –  Bereits mit Anlaufen der Lieferungsproduktion  war an der Berliner Akademie eine spezielle Kommission  der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst  für das GWb und das Deutsche Wörterbuch (DWb)  gegründet worden. Beide Projekte waren seit langem  inhaltlich eng miteinander verknüpft, wobei vom  DWb wesentliche Impulse für die umfassende lexikographische  Erschließung von Goethes Sprache ausgingen.  Der entscheidende Anlaß für die Kommissionsbildung  bestand allerdings in der politischen  Brisanz dieser beiden deutsch-deutschen Wörterbuchunternehmungen.  Den Vorsitz für das GWb führte  der Akademiepräsident Hartke selbst. Zu Beginn der  zweiten großen Arbeitsphase an dem Projekt wurden  durch das Wirken dieser Kommission grundlegende  Fragen, vor allem im Verhältnis der teilnehmenden  Akademien, gelöst.  Mit der strikten Abgrenzungspolitik der DDR-Regierung  und der Umprofilierung der Berliner Akademie  zur »sozialistischen Forschungsakademie« Ende  der 60er/Anfang der 70er Jahre kam es für das GWb allerdings zu erheblichen Beeinträchtigungen. Zeitweise  war die Tätigkeit der Berlin-Leipziger Arbeitsstelle  sogar gefährdet. Zwischen 1968 und 1980 gab  es keinen persönlichen Kontakt mehr zu den westdeuts chen  Arbeitsgruppen, später nur sehr selten auf  Leiterebene. Begleitpublikationen der östlichen Mitarbeiter  zum Projekt waren unter diesen verschärften  Bedingungen bis in die 80er Jahre nicht gestattet.  So trat das Unternehmen auf dem Gebiet der  DDR fast ausschließlich durch die Publikation der  erstellten Artikelpartien hervor. Der zehn Lieferungen  umfassende erste Band, woran der bis Mitte der  70er Jahre währende Prozeß der konzeptionellen Selbstfindung  nachvollziehbar ist, war 1978 abgeschlossen  (A–azurn). Der zweite, bei dem die Bearbeitungsdauer  pro Lieferung ab 1981 auf zehn Monate limitiert  war, lag im Umfang von zwölf Lieferungen 1989 vor  (B–einweisen). Dabei war die Menge der im Lieferungszeitraum  zu bearbeitenden Belege von ursprünglich  30.000 bis 1984 schrittweise auf 40.000 Belege  heraufgesetzt worden. (Eine nochmalige Anhebung erfolgte Ende der 90er Jahre auf 45.000 Belege und wurde nach 2005 schließlich auf 74.000 erhöht) 

Die »Wende« von 1989 ermöglichte nach Jahrzehnten  erstmals eine persönliche Begegnung meist  langjähriger Kollegen des GWb. Mit diesem Treffen  wurde eine Tradition regelmäßiger Redaktions-konferenzen  begründet, die im Wechsel an den verschiedenen  Arbeitsorten stattfinden.  Eine entscheidende Voraussetzung war jedoch  zunächst die positive Evaluierung der Berlin-Leipziger  Arbeitsstelle durch den Wissenschaftsrat im Jahre  1990/91. Es folgte die Bestätigung des Votums durch  die Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften.  Nach einer Übergangszeit wurde die Arbeitsstelle  1994 durch die 1992 neu gegründete Berlin-  Brandenburgische Akademie der Wissenschaften  übernommen. Ihre Finanzierung erhält sie – wie die  anderen Arbeitsstellen auch – je zur Hälfte vom Bund  und den beteiligten Ländern.  Seit Anfang der 90er Jahre wurde die Wörterbucharbeit  durch Einsatz elektronischer Medien auf  eine neue technische Grundlage gestellt. Das führte  zu einer deutlichen Effektivierung der Artikelproduktion.  – 1999, zum Goethejahr, kam der zwölf  Lieferungen umfassende dritte Band des Wörterbuchs  zur Publikation (einwenden–Gesäusel).  Zu besserer Begleitung und Förderung der Tätigkeit  an den drei Arbeitsstellen, auch zur gemeinsamen  Behandlung methodisch-konzeptioneller Fragen,  wurde 1998 eine interakademische Kommission der  beteiligten Akademien gebildet. Der Vorsitz wechselt  turnusmäßig unter ihnen.  Bei der Erstellung der letzten Lieferungen ist es zu  einer weiteren Beschleunigung in der Artikelarbeit  gekommen. In Abstimmung mit der Betreuungskommission sind viele höherbelegte Wörter mittels  eines individuellen Anrechnungskoeffizienten für die  Bearbeitungsdauer neu angesetzt worden. Das betraf  vor allem Lemmata des usuellen Wortschatzes und  speziell auch Funktionswörter, für die jetzt nur noch  deutlich kürzere Fristen zur Verfügung stehen. Wesentliche  lexikographische Prinzipien wie Vollständigkeit  der Lemmata und der erfaßten Bedeutungen  bleiben jedoch auch künftig gewahrt. Die Behandlung  von Goethes Kernbegriffen, der Vielzahl poetischer  Bildungen, wichtiger Sachwörter, auch der spezifisch  Goetheschen Aspekte beim Gebrauch des  usuellen Wortschatzes, soll in gewohnter Umsicht  geschehen, womöglich sogar noch stärker profiliert  werden. 





Filmaufzeichnung mit der Präsentation der ersten Lieferung des Goethe-Wörterbuchs durch Wolfgang Schadewald im Jahre 1967

In dieser Filmaufnahme von 1967 spricht der Initiator des #GWb, Wolfgang Schadewaldt, in der Tübinger Arbeitsstelle u.a. über die Arbeit am Wörterbuch und präsentiert die erste Lieferung





 

Festveranstaltung "70 Jahre Goethe-Wörterbuch" am 12.12.2016

 


 

Am 12.12.2016 fand im Leibniz-Saal der BBAW unter Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen der drei Arbeitsstellen eine öffentliche Jubiläumsveranstaltung zur Begründung des Vorhabens vor siebzig Jahren statt. forschung-aktuell/bbaw-70jahregwb.pdf

Die Veranstaltung war schon Wochen vorher ausgebucht und das Programm und die Präsentation unseres Vorhabens wurden von Publikum und Presse sehr freundlich aufgenommen.

Siehe hierzu:

Stephan Speicher: Das Abendland und der Frosch. Süddeutsche Zeitung, 13.12.16 http://www.sueddeutsche.de/kultur/goethe-woerterbuch-das-abendland-und-der-frosch-1.3292466

Gero Schließ: Gott, Goethe und ein Wörterbuch. Deutsche Welle, 16.12.2016 http://www.dw.com/de/gott-goethe-und-ein-w%C3%B6rterbuch/a-36745012

Astrid Herbold: Goethe schrieb 2500 Mal von der Liebe. Tagesspiegel, 13.12.16 http://www.tagesspiegel.de/wissen/das-goethe-woerterbuch-goethe-schrieb-2500-mal-von-der-liebe/14963190.html

70 Jahre Goethe-Wörterbuch. Wie man Goethe "verzettelt". Michael Niedermeier im Gespräch mit Dieter Kassel, Deutschlandradio Kultur, 12.12.2016

http://www.deutschlandradiokultur.de/70-jahre-goethe-woerterbuch-wie-man-goethe-verzettelt.1008.de.html?dram:article_id=373718

Das Goethe-Wörterbuch wird 70. Ernst Osterkamp  im Gespräch. Kulturradio vom rbb, 12.12.2016

Matthias Heine: Interview mit Ernst Osterkamp und Michael Niedermeier: Die Welt, 17.11.2016



Das Projekt Goethe-Wörterbuch an der BBAW (Ausstellung zum 250. Goethe-Geburtstag 1999 an der BBAW mit Materialien und Dokumenten)

Anläßlich des 250. Goethe-Geburtstages fand vom 27.08. bis 03.09.1999 im Akademie-Gebäude am Gendarmenmarkt eine Ausstellung zum Thema „Goethe und die Berliner Wissenschaftsakademie. Eine Spurensuche in Archiv und Bibliothek" statt.  Im Nachklang entstand ein "virtueller Rundgang" mit Verweisen auf verschiedene Quellen und Dokumente.  J.W.Goethe und Berlin